Pranayama – Aufhören des Atems ?
Pranayama ist das Aufhören der Bewegung des Ein- und Ausatmens
Normalerweise ist das Aufhören des Atems nicht mit angenehmen Vorstellungen verknüpft. Trotzdem ist das die Definition von Pranayama in den Yoga-Sutras. Aber erst mal hört sich das nach Luft anhalten an. Oder gar nach Ersticken?
Kommen wir also zu der Sūtra und dem Trick, der uns den Vorgang näherbringt.
II/49 tasmin sati svāsa-praśvāsayor gati-vicchedaḥ prāņāyāmaḥ
Wenn man darin ist (in āsana), folgt prāņāyāma
(Atemachtsamkeit). Prāņāyāma ist das Aufhören der Bewegung des Ein- und Ausatmens.
Aus Rudolf Fuchs, Margret Distelbarth, Acht Stufen – Ein Weg. Die Yogasūtras des Patañjali
Wenn Sie einen Yogaübenden in Pranayama erleben, werden Sie trotzdem eine Bewegung der Bauchdecke wahrnehmen. Auch wenn die Bewegung sehr ruhig geworden ist: Der Kerl atmet. Ohne jeden Zweifel sieht man eine Atembewegung. Was hat es also auf sich mit dem Aufhören des Atems?
Angenommen, es ist Ihnen in einem glücklichen Moment wirklich gelungen, eine feste und angenehme Körperhaltung zu erreichen (s. a. Was ist Asana?). Dann richtet sich unsere Aufmerksamkeit automatisch auf das Einzige, was sich noch bewegt: Auf den Atem. Wir wechseln von Asana in die Atemachtsamkeit (Pranayama). Pranayama können Sie sich wie einen Strudel vorstellen. Füllen Sie eine Badewanne mit Wasser. Und dann ziehen sie den Stöpsel. Es bildet sich, wie wir alle wissen, ein strudelförmiger Abfluss.
Atempause: In der Mitte ist keine Bewegung
So dürfen Sie sich auch das Erlebnis Pranayama vorstellen. Und alles was an der Oberfläche schwimmt, wird in den Strudel hineingezogen. In dem Fall ist es unsere Aufmerksamkeit, die zunehmend von der Atembewegung erfasst wird und von der Oberfläche, der Außenwelt der Gegenstände, aber auch vom eigenen Körpererlebnis abgezogen wird. Wir werden eins mit der Bewegung des Atems. Und wie der Strudel in der Badewanne oder der Wirbelsturm auf hoher See, so hat hat Pranayama auch eine Mitte. Nämlich die Atempause. Und Pranayama verdeutlicht mit der Zeit, je mehr unsere Aufmerksamkeit sich auf den Atem richtet, diese Mitte. Und wie in der Mitte des Wirbelsturms Windstille herrscht, obwohl drumherum die Sturmwinde toben, so kommt in der Mitte von Pranayama alles zur Ruhe. In der Mitte von Pranayama ist keine Bewegung.
Unterschiedlicher Standpunkt von Osten und Westen
Deshpande* beschreibt Pranayama in seinem Kommentar zu Patanjalis Sutra als die Entdeckung der Pause zwischen den Atemphasen. Es ist ein angenehmer Sog, der die Aufmerksamkeit in die Mitte des Geschehens führt. Und damit sind wir bei der unterschiedlichen Betrachtungsweise von Westen und Osten. Der Westen schaut von außen auf das Geschehen und formuliert mit Recht: Der Atem geht doch weiter, man kann es ja sehen, die Bauchdecke bewegt sich. Und der Osten betrachtet das Geschehen von innen und formuliert mit Nachdruck: Der Atem steht still. Denn meine Aufmerksamkeit ist am Platz der Nichtbewegung angelangt. Und aus östlicher Sichtweise und für den Yoga ist die innere Betrachtungsweise das, was zählt.
*Patanjali, Die Wurzeln des Yoga, Scherz Verlag S. 130